Betonknacker - die Natur siegt
- thomasvonriedt
- 28. Nov.
- 8 Min. Lesezeit

Betonknacker I
Heute war ich früh unterwegs zum Markt in der Stadt – eigentlich wie an allen Samstagen – und fuhr wie immer dieselbe Strecke. Um diese Zeit sind bisher nicht viele Fahrzeuge unterwegs, es ging zügig voran. Kurz vor der Stadt sind riesige Bauarbeiten im Gange: Ein neuer Tunnel soll dereinst die Westumfahrung entlasten, aber das wird wohl erst in ein paar Jahren der Fall sein.
Aktuell bedeutet das: Jede Woche eine neue Spurführung, bremsen, anfahren, rot, grün, rot, grün. Dazu immer wieder Automobilisten höflich einreihen lassen, die erst im letzten Moment merken, dass sie eigentlich die Spur wechseln sollten. Meist keine Hiesigen, das sieht man an den Nummernschildern.
Nach zwei weiteren Ampeln und einer Unterführung näherte ich mich der nächsten Lichtsignalanlage. Ja klar, es ist immer rot, wenn ich komme, und dann hat ja auch noch der Bus Vorfahrt. Also: nicht nerven, relaxen, zurücklehnen, die Umgebung anschauen.
Meine Augen wanderten von rechts nach links. Ein Rasta wartete auf den Bus, eine wohlbeleibte Frau war gerade dabei, die Strasse zu überqueren – ich tippte innerlich auf Ex-Jugoslawien. Hoppla, nicht schlecht: die junge Golffahrerin auf der Gegenspur. Ich wurde zunehmend wacher, während sie mit den nailstudiogepflegten Fingern auf das Lenkrad trommelte.
Hallo Thomas, ich bin’s, die … – ach nein, das war eine Zeile der EAV in einem anderen Zusammenhang.
Linker Hand säumten schlanke, elegante Birken mit schwarz-weiss marmorierter Rinde die Strasse. Ihre Blätter waren bereits im Begriff, ihre Farbe der Jahreszeit anzupassen. Am Strassenrand lagen Zigarettenkippen von Marlboro, Kaugummipapierli, eine leere McDonald’s-Verpackung und eine Red-Bull-Dose. Wer schmeisst denn um diese Zeit schon Büchsen weg – oder war das noch vom Vorabend?
Gerade wollte ich mich wieder auf die Ampel vor mir konzentrieren, da bemerkte ich ein kleines Wunder.
Was für ein Kontrast, was für eine herrliche Laune der Natur: Eine Asphaltpflanze aus der Familie Betula, genauer Betula pendula, hatte sich mitten in der Strasse, im Windschatten einer Fussgängerinsel, ihren Platz erobert. Da wächst doch so ein kleines Birklein rotzfrech durch den Asphalt!
So zart, so grün, schon rund sechzig Zentimeter hoch, bereits im Begriff, sich zu verästeln, und widerspenstig dem starken Verkehr der Woche trotzend – den Abgasen, dem dieselpartikelgeschwängerten Regenwasser.
Pflanzen müssen denken können: Genau zwischen Bordstein und Strassenbelag, geschützt vor Reifen und Fusstritten, hatte sich die kleine Birke platziert und war still und stetig gewachsen. Erstaunlich – ich war Woche für Woche denselben Weg gefahren und hatte den jungen Baum nie bemerkt.
Mich beeindruckt, wie so ein zartes Pflänzlein sich in dieser Betonöde entwickeln kann. Wie hatte es die Pflanze geschafft, den Asphalt aufzubrechen und zunehmend zu sprengen? Eine Meisterleistung.
Da gab es doch einmal jemanden, der hatte von „hart wie Kruppstahl“ gefaselt – und dann trotzdem verloren. Wie der Beton.
Die sanfte, anpassungsfähige Pflanze hatte sich unwiderstehlich durch jede Ritze gearbeitet, immer der Sonne entgegen, Schritt für Schritt ein wenig zugelegt und schliesslich das kräftigende Sonnenlicht begrüsst. Wie heisst es doch gleich? Stetes Bohren erspart den Zimmermann – oder so ähnlich.
Wie lange würde die kleine Birke noch bestehen können? Würden die Strassenwärter ihr zu Leibe rücken? Ein Lkw mit Zwillingsbereifung, der achtlos darüberfährt? Vielleicht Kinder, die sie sinnlos ausreissen?
Vermutlich würde eher ein Strassenarbeiter in Erfüllung seiner Pflicht der Asphaltbirke den Garaus machen.
Darf er das?
Steht irgendwo in einem Reglement – und wir haben ja Anleitungen und Vorschriften für alles und jedes –, wie mit „renitenten Gewächsen“ umzugehen ist? Wird man die Asphaltbirke dem Feuertod übergeben, ausreissen oder mit Chemie beseitigen?
Wäre das nicht eine Gelegenheit, bei der der Umweltschutz eingreifen könnte? Immerhin: Je mehr Pflanzen den Prozess der Fotosynthese unterstützen, desto sauberere Luft hätten wir. Die ganze Diskussion um Diesel, Hybrid und Elektro würde sich weitgehend – na gut, fast – erübrigen.
Auch den Hunden wäre gedient. Versucht einmal, eine Strasse zu überqueren und gleichzeitig das Urinieren zu verkneifen, wenn man dringend muss. Jede Fussgängerinsel mit Baum wäre nicht nur für Hunde eine Erleichterung.
Fussgänger fänden Schutz vor Regen und Sonne, Liebschaften könnten unter dem Baum angebahnt und später in der Rinde verewigt werden.
Regelmässig würde der Baum seine Samen entladen, Allergiker könnten sich bei der Stadtverwaltung beschweren. Neue junge Bäume würden sich an anderen Orten ansiedeln.
Und käme der Baum in ein bestimmtes Alter – schnipp, schnapp, ratsche – entstünden ein paar Festmeter urbanes Brennholz (AOP). Grüne und Hipster könnten es an der städtischen Holzgant erstehen und die Stadtkasse füllen.
Sicherlich wäre das Holz auch ein charmantes Mitbringsel bei Besuchen von Freunden. Birkenholz ist hell, brennt leicht und verbreitet einen angenehmen Rauchduft.
Oder man verarbeitete es weiter zu Zellulose: Es könnte als Notizblock, Bio-Briefpapier oder vierlagiges Toilettenpapier enden. Irgendwann schlösse sich der Kreislauf: Was einmal Holz war, kehrte zur Mutter Natur zurück, düngte die Erde und schuf die Grundlage für das Wachstum neuer Bäume.
Mir gefiel der Gedanke, dass jemand seine Liebe in die Rinde ritzt – „Liebe Martin & Klärli“ oder zeitgemässer „Love Noah & Laura“ – offen gesagt am besten.
Leider liess mich der pressierte Zeitgenosse hinter mir diesen Gedanken nicht weiter ausspinnen. Ich drückte das Gaspedal und fuhr mit fast unglaublichen 50 km/h durch die morgendliche Stadt weiter in Richtung Markt. Sicher ist: Ab heute werde ich jeden Samstag auf den Baum achten.
Schaut euch mal um – es gibt noch viele solcher Wunder.
Betonknacker II
Januar 2018. Samstag, nicht Freitag – also ein gefahrenfreier Tag, obschon mir beim Autofahren fast die Augen zufallen.
Heute Morgen habe ich in aller Frühe Freunde, die unbedingt in die Wärme Thailands wollten, zum Flughafen gefahren. Ja klar, ich war schon um 04.30 Uhr wach, obwohl ich erst um 06.50 Uhr bei ihnen sein sollte. Wer will schon verschlafen oder gar schuld sein an einem verpassten Flug?
Um 04.30 Uhr traute ich mich natürlich nicht mehr zurück ins Ehebett und setzte mich vor den Fernseher – Duschen hätte nur meine Frau geweckt. Irgendwann kam der Moment für die Nespresso-Maschine: einmal extra stark, bitte. Zwei Scheiben von meinem selbstgebackenen Vollkornschrotbrot, und schon bald war ich unterwegs.
Gegen 07.45 Uhr war ich wieder zurück. Die Strassen waren leer – nicht aber der Flughafen. Wahnsinn, wer an einem Samstagmorgen alles dort unterwegs ist.
Dass grauhaarige Senioren in die Wärme flüchten, ist klar. Dass Geschäftsleute den Samstag aus Kostengründen für den Heimflug nutzen, ebenso. Aber wie erklärt es sich, dass so viele Kinder im schulpflichtigen Alter reisen? Die Wintersportferien hatten doch noch gar nicht begonnen, oder?
Na ja, nicht mein Problem. Meine Freunde sind nun in guten Händen und werden schon bald die Golfschläger schwingen.
Also, um 07.45 Uhr war ich also wieder zu Hause – und weiter ging es zum samstäglichen Einkauf auf dem Gemüsemarkt in der Stadt. Die übliche Strecke, der übliche Verkehr, nur die Witterung war ungewöhnlich: Es herrschen beinahe frühlingshafte Bedingungen, während genau vor 364 Tagen Schnee lag und ich dank dem 4x4-Antrieb meines Wagens das Schneeschippen auf später verschieben konnte.
Unglaublich dieses Wetter. Am Tag zuvor hatten mich am Schanzengraben die Forsythien gegrüsst, und nahe dem Gottfried-Keller-Denkmal am See blühten die Schneeglöcklein.
Während ich dem Katzensee entlangfuhr, versuchte ich, mit der rechten Hand mein Handy auf Kamerafunktion zu stellen. Ich wollte bereit sein, wenn ich auf Höhe des Betonknackers wäre.
Ihr erinnert euch? Der Betonknacker – Betula pendula, die Hängebirke, dieser freche Baum, der seit einem Jahr seiner Umgebung trotzt und sich durch den Asphalt zwängt.
In den letzten Wochen hatte sich sein Laub stetig verändert: vom satten Grün zu goldigem Gelb und Braun. Dann kamen Schnee und Salzstreuer, Schneepflug und Strassenarbeiter. Nichts, aber auch gar nichts schien der Birke zu schaden.
Ich war überzeugt, dass die Arbeiter dem Bäumchen irgendwann den Garaus machen würden – absichtlich oder zufällig mit der Schaufel. Heute glaube ich eher, dass die rot-grüne Stadtverwaltung die Strassen erst gar nicht bis zum Stadtrand reinigen lässt.
Wie auch immer: Als ich die Pflanze zuletzt gesehen hatte, war klar, dass der Verlust des restlichen Laubes nur noch eine Frage der Zeit war.
Und dann kam Burglind.
Altgermanisch mit der Bedeutung „die sanfte Beschützerin“ – nur zeigte sie sich alles andere als sanft. Sie fegte durchs Unterland, riss im Garten von Hans die Tanne um, leider nicht jene, die uns die Sicht auf die Berge nimmt.
Burglind sorgte für tagelange TV-Präsenz, endlose Reportagen mit den immer gleichen Bildern – und nebenbei riss sie wohl die letzten Blätter von den Ästen eines kleinen Baumes, den ohnehin niemand beachtete.
08.20 Uhr. Ich habe die Baustelle des Autobahnanschlusses Katzensee hinter mir und hoffe, dass die Ampel auf Rot schalten wird, sobald ich bei meinem Baumfreund ankomme.
Tatsächlich: Es funktioniert. Mein Wagen kommt zum Stehen, ich packe das Handy. Ich berühre mit dem Daumen die Bedienoberfläche – und weg ist die Kamerafunktion. Also hopp, noch einmal.
Dann mit der linken Hand die Scheibe runter, mit der rechten das Handy haltend, einhändig wohlgemerkt – und irgendwie sollte ich jetzt noch mit dem Daumen auslösen.
Schon hupt es hinter mir, die Ampel schaltet früher auf Grün als an Werktagen. Meine Frau gerät fast in Panik, und ich habe vermutlich statt eines Fotos dasselbe Motiv gleich mehrfach aufgenommen.
Mir egal, was der Hintermann denkt: „Schaut euch den Deppen an – fotografiert die Strasse, statt zu fahren“, oder so ähnlich. Ich visiere nochmals die Pflanze an, drücke mit dem Daumen ab und gleichzeitig mit dem rechten Fuss das Gaspedal.
Wer sagt denn, Männer seien nicht multitaskingfähig? Und nebenbei entfuhr mir noch ein „leck mich“, während der Wagen anrollte.
Handy weg, Scheibe hoch, ein Hochgefühl im Herzen – und mit der rechten Hand ein freundliches Winken für den Drängler hinter mir.
Drei Stunden später konnte ich mich – diesmal von der anderen Strassenseite her – nochmals vergewissern, dass alles „okay“ mit meiner kleinen Birke war. Ich fuhr beruhigt nach Hause.
Würde ich in England leben, würden im Kreis der Kollegen beim Bier bestimmt schon Wetten laufen, ob der Baum im Frühjahr wieder seine Blätter entfalten darf.
Ich hoffe es sehr – sein intensives Grün ist mir eine Wohltat in all dem kalten Grau der Betonwelt.
Betonknacker III
Leider hatte mein „Birkli“ nicht überlebt. Irgendwann hat eine gnadenlose Strassenmaschine es geköpft und zusammen mit anderen Wildwüchsen der Strasse der Grünabfuhr übergeben.
Ich bin sicher: Dort wird es, nach dem Zerkleinern und vermischt mit anderen organischen Resten, zu hervorragendem Garten Mulch oder Dünger werden und so frisch gepflanzten Zierden der Vorstadtgärten beim Wachsen und Erblühen helfen.
Lange Zeit beherrschten tonnenschwere Baumaschinen den Strassenabschnitt, rissen auf, teerten zu, um gleich wieder von vorn zu beginnen. Der Stadtverkehr wird von Jahr zu Jahr dichter, und die Verwaltung tut im Auftrag des Stadtrates alles, um den Moloch Mobilität einzudämmen.
Immer wenn ich an einem Samstagmorgen Richtung Stadt unterwegs bin, verfalle ich in dasselbe Fahrerverhalten – und ärgere mich über Automobilisten, die in der Schneckentempo durch die Strassen rollen.
Die Fahrradfahrer halten erst gar nicht am Rotlicht, und die Fussgänger starren konzentriert auf ihre Handys und hören dank ihren „Dr. Dre Beats“-Kopfhörern ohnehin nichts. Der ganz normale Irrsinn am Samstagmorgen.
So schaffe ich es irgendwann doch zu der Stelle, an der meine Birke ihr Leben lassen musste.
Die Strasse ist perfekt erneuert, die Steuergelder offenbar optimal eingesetzt. Keine Baumaschinen behindern mehr den Verkehrsfluss – nur noch Fussgänger, die mit sichtlichem Vergnügen den Drucktaster an der Ampel bedienen.
Es ist November 2025, ich stehe also wieder einmal an dieser Ampel und schaue nach links aus dem Fenster. Was sehe ich?
Die Wurzeln der verschwundenen Birke liessen sich nicht umbringen. Ein Bäumchen begann erneut, sich nach der Sonne zu strecken – allen Gefahren, allem Müll und der schlechten Luft zum Trotz. Und jetzt kommt schon bald der erste Schnee und Tonnen von Salz.
Ich wünsche Dir alles Gute mein Birklein.
Das Wiedersehen tut meiner Seele gut. Meine Stimmung verbessert sich schlagartig um ein paar hundert Prozent. Ich fahre beschwingt weiter, im Wissen, dass die Natur die Stärksten irgendwann immer überwindet.










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