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Das Herrgottschäferli

  • thomasvonriedt
  • 25. Nov.
  • 9 Min. Lesezeit
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Eine Weihnachtsgeschichte zum Vorlesen.



Das Herrgottschäferli




Schöpfung – Wie alles begann


Vor langer, langer Zeit erschuf Gott die Welt.

In sechs Tagen machte er Himmel und Erde, das Wasser, die Pflanzen, die Tiere in der Luft, im Wasser und auf dem Land. Am siebten Tag ruhte er sich aus.


Zum Schluss formte er aus Lehm eine neue Art von Lebewesen: den Menschen. Er hauchte ihm Leben ein und nannte ihn Adam. Später erschuf er Eva, damit Adam nicht allein war.


Am Anfang lebten Menschen und Tiere friedlich nebeneinander. Doch mit der Zeit wurden es immer mehr Menschen. Sie stritten sich, waren neidisch aufeinander und begannen sogar, gegeneinander zu kämpfen. Manche stahlen die Tiere oder das Land von anderen. Andere versuchten, den Frieden zu bewahren, und waren traurig über all die Gewalt.


Gott beobachtete das alles mit Sorge. Er überlegte, was er tun sollte.


So weit kennst du die Geschichte vielleicht schon.




Ein kleiner, unauffälliger Käfer


Seit der Erschaffung der Erde lebte ein kleines, unscheinbares Wesen im Schatten der Welt. Es krabbelte leise durchs Leben, vermehrte sich, wie es ihm aufgetragen war, und ernährte sich hauptsächlich von Läusen.


Fast niemand beachtete diesen Käfer. Er war beige-braun mit einem leichten roten Schimmer, hatte sechs flinke Beine und verborgene Flügel unter einer harten Schale. Auf seinem schwarzen Kopf trug er lange Fühler. Weil er so unauffällig aussah, war er gut vor Feinden geschützt.


Eigentlich ging es ihm nicht schlecht. Er war fleissig und fraß jeden Tag viele Läuse – bis zu hundert! So sorgte er dafür, dass seine Art weiterlebte.


Trotzdem schaute er manchmal sehnsüchtig zu den anderen Käfern.

Er bewunderte den Rosenkäfer mit seinen glänzenden, grün schillernden Flügeln, der laut brummend von Blüte zu Blüte flog. Er staunte über den mächtigen Hirschkäfer mit seinem großen „Geweih“. Und heimlich wünschte er sich eine eigene Laterne wie die Leuchtkäfer, die nachts im Dunkeln leuchteten.


Was ihn besonders ärgerte, war eine alte Geschichte aus seiner Familie:

Sein Ur-Ur-Ur-Großvater hatte erzählt, wie damals alle Tiere vom Herrgott ein „Kleid“ bekommen hatten. Die einen bekamen Streifen, andere Punkte, wieder andere leuchtende Farben oder besondere Hörner. Als der kleine Käfer an die Reihe kam, war nur noch eine schlichte beige-rote Kutte übrig.


Der Herrgott hatte den enttäuschten Käfer damals getröstet und gesagt:

„Deine Zeit wird noch kommen. Du wirst es selbst herausfinden.“


Seitdem wurde dieses Versprechen von Generation zu Generation weitergegeben.

Doch es vergingen sehr viele Jahre – und nichts schien sich zu ändern.




Bethlehem – vor langer Zeit


Viele Jahre später, in dem Land, das wir heute Israel nennen, herrschten die Römer. Es gab einen mächtigen Herrscher, der Angst hatte, ein neuer König könnte geboren werden. Darum schickte er seine Soldaten aus, um nach neugeborenen Jungen zu suchen. Die Menschen hatten große Angst.


In dieser Zeit suchten der Schreiner Josef und seine hochschwangere Frau Maria einen Platz zum Übernachten. Sie fanden nur eine halbverfallene Hütte, in der früher Tiere gestanden hatten. Es war kein schöner Ort für die Geburt eines Kindes.


Das Dach war löchrig, durch die Spalten fiel Regen und Mondlicht. Die Wände hielten den Wind nur schlecht ab. Auf dem Boden lag altes, muffiges Stroh, vermischt mit Tierkot. In den Ritzen und Spalten kroch Ungeziefer umher. Auch für den Esel, der sie begleitete, musste unter diesem Dach noch Platz gefunden werden.


Josef baute aus ein paar Feldsteinen eine einfache Feuerstelle in der Ecke, damit der Rauch durch ein Loch im Dach entweichen konnte. Das große Tor band er mit einem Strick zu, damit es nicht im Wind klapperte.


Ganz oben, auf einem Dachbalken, beobachtete ein kleiner Bewohner das Geschehen: unser unscheinbarer Käfer. Unter seinen Freunden war er als Cocci bekannt. Er hatte sich hier bereits vor einiger Zeit ein Nachtlager gesucht.


Es war der 18. Dezember. Wie jeden Abend machte sich Cocci auf seinem Balken bereit zum Schlafen.


„Vielleicht sind das arme Leute wie ich“, dachte er. „Vielleicht hat man sie auch vergessen.“

Mit diesem Gedanken gähnte er und schlief ein.




19. Dezember


Ein Sonnenstrahl kitzelte Cocci wach. Er streckte seine Fühler und alle sechs Beine, gähnte einmal kräftig und wollte gerade zur Futtersuche aufbrechen. Doch bevor er durch eine Lücke im Dach hinausschlüpfte, warf er einen neugierigen Blick nach unten.


Die neuen Bewohner waren schon wach.

Der Esel kaute zufrieden auf Heu, Josef trug Brennholz herbei, und Maria bereitete eine dünne Suppe.


„Ihnen geht es wohl auch nicht besonders gut“, dachte Cocci und machte sich auf den Weg, Läuse zu suchen.


Die Rosenläuse waren schon lange verschwunden, der Sommer war vorbei. Also musste er sich mit den Läusen an Salbei- und Rosmarinbüschen zufriedengeben. Die waren zwar nahrhaft, aber der feine Rosenduft fehlte ihm.


Am Abend kehrte Cocci müde, aber satt zurück in die Hütte.

Von seiner Neugier gepackt, flog er ein paar Runden durch den Raum und landete schließlich auf Josefs Schulter.


„Josef, schau mal, wir haben Besuch – ein niedlicher Käfer!“, rief Maria.

„Das muss ein gutes Zeichen sein. Vielleicht finden die Römer uns nicht.“


Josef hielt Cocci vorsichtig den Finger hin, als wolle er sagen: „Komm, kleiner Freund, hab keine Angst.“


Doch Cocci war misstrauisch. Er flog schnell zurück auf seinen sicheren Balken. Maria lächelte ihm nach.




20. Dezember


Draußen prasselte der Regen auf das Dach. Durch kleine Löcher tropfte es ins Innere. Cocci blieb lieber in der Hütte.


„Gut, dass ich gestern meinen Bauch vollgeschlagen habe“, dachte er zufrieden. „Bei diesem Wetter verstecken sich sogar die Läuse.“


Josef und Maria waren fleißig. Josef zimmerte einen kleinen Tisch und zwei einfache Stühle. Auf den Tisch stellte er eine schlichte Vase mit ein paar Feldblumen – so sah die Hütte gleich ein wenig freundlicher aus.


Cocci segelte neugierig nach unten und landete mitten auf dem Tisch.

„Da ist er wieder, dein kleiner Käfer“, sagte Josef lachend. „Ich glaube, es ist derselbe wie gestern.“


Cocci putzte sorgfältig seine Fühler mit den Vorderbeinen.

„Siehst du, wie ordentlich er ist?“, sagte Maria und schaute ihm lächelnd zu.


Plötzlich strömte ihm ein vertrauter Duft entgegen. Er folgte ihm – und da waren sie: herrliche, fette Läuse! Sie saßen auf den roten Feldanemonen in der Vase und saugten den Pflanzensaft.


„Was für ein Glück!“, dachte Cocci und machte sich über das Festmahl her.

Mit prall gefülltem Bauch flog er später zurück auf seinen Balken.


Einige Läuse ließ er übrig – für den Abend. Man weiß ja nie!




21. Dezember


Auch dieser Tag begann ruhig. Josef und Maria arbeiteten still und konzentriert. Cocci beobachtete sie von oben.


Die beiden waren dabei, eine Kiste auf gebogene Hölzer zu montieren.

„Du machst das wirklich schön, Josef“, sagte Maria. „Jetzt brauchen wir nur noch trockenes Stroh und saubere Tücher für unser Kind.“


Cocci kratzte sich mit den Hinterbeinen.

„Wofür die wohl diese Kiste brauchen?“, fragte er sich. „Sie sieht gemütlich aus.“


Neugierig, aber noch unsicher, machte er sich auf in die Felder, um neue Läuse zu suchen.


Am späten Nachmittag kehrte er zurück.

Er sah, dass Maria schwer atmend auf einem Stuhl saß. Ihr Gesicht war angespannt, manchmal verzog es sich vor Schmerz. Josef stand neben ihr, wischte ihr mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn und redete beruhigend auf sie ein.


Cocci wollte genauer hinsehen und landete – ohne es zu planen – auf Marias Handrücken.

Beide, Maria und der kleine Käfer, spürten die leichte Berührung. Für einen Moment schien der Schmerz in ihrem Gesicht nachzulassen. Maria hob die Hand näher zu ihrem Gesicht und betrachtete ihn.


In ihren Augen lag etwas unglaublich Warmes und Sanftes. Cocci konnte den Blick kaum abwenden.


Sie atmete tief aus – und der Luftzug trug ihn sanft wieder hinauf zu seinem Platz unter dem Dach.




22. Dezember


Von draußen waren laute Schritte und das Klirren von Rüstungen zu hören. Die römischen Soldaten kontrollierten Haus um Haus. Die Menschen fürchteten sie.


Cocci sah, wie Josef und Maria sich in einer dunklen Ecke hinter dem Schweinekoben versteckten. Sie hatten alles aufgeräumt, damit es so aussah, als wäre niemand da. Nur der Esel stand noch im Raum und kaute ruhig sein Stroh.


Die Tür wurde aufgestoßen.

„Non c’è nessuno qui dentro“, brummte ein Soldat aus Kampanien.

Dann fügte er auf Griechisch und in der Sprache des Landes hinzu, dass hier niemand sei – nur ein dummer Esel. Er lachte, schloss die Tür und ging.


Cocci flog zu Maria, landete auf ihrem Arm und lief aufgeregt hin und her. Er bewegte seine Fühler so heftig, als wolle er sagen: „Die Gefahr ist vorbei!“


„Was hat unser kleiner Freund denn?“, fragte Josef. „Ich glaube, er beabsichtigt, uns etwas zu sagen.“

Maria nickte. „Vielleicht spürt er, dass die Soldaten weg sind.“


Cocci beruhigte sich langsam, krabbelte noch eine Weile über Marias Hand und flog dann wieder nach oben.


„Schade, dass wir die Sprache der Tiere nicht verstehen“, sagte Josef. „Manchmal habe ich das Gefühl, sie wollen uns wirklich etwas mitteilen.“




23. Dezember


Von Tag zu Tag wurden Maria und Josef unruhiger.

Maria konnte sich kaum noch bücken, ihr Bauch war schwer, und viele Dinge fielen ihr schwer. Josef versuchte, eine Truhe für ihre wenigen Habseligkeiten fertigzubauen und einen Vorratsschrank für Brot, Mehl, getrocknete Früchte und Öl. Immer wieder sah er besorgt zu Maria und war bereit, ihr zu helfen.


Er machte sich Sorgen – und doch freute er sich auf ihr erstes Kind. Er hoffte auf einen Sohn.


Seit einigen Tagen war am Abendhimmel ein besonderer Stern zu sehen. Er war heller als alle anderen und hatte einen langen Schweif. Die Dorfbewohner waren aufgeregt. Die Alten sagten, das sei das Zeichen für etwas sehr Wichtiges, das geschehen würde.


Cocci flog eine Runde durch den Stall und landete in der Nähe der Krippe – der Kiste, die Josef gebaut hatte.

„Wenn hier ein Kind hineingelegt wird“, dachte er, „dann will ich dafür sorgen, dass keine Läuse es beißen.“


Und so begann er, besonders gründlich nach Läusen zu suchen.




Heiligabend


Heute war Unruhe unter dem alten Dach. Cocci merkte es sofort.


Maria stöhnte vor Schmerzen. Immer wieder entfuhr ihr ein Schrei, wenn eine Wehe sie überrollte. Josef wich kaum von ihrer Seite. Er hielt ihre Hand und wischte ihr den Schweiß von der Stirn.


Eine Bäuerin aus der Nachbarschaft war gekommen, um zu helfen. Sie kochte Wasser über dem Feuer und legte saubere Leinentücher bereit.


„Wofür die wohl sind?“, fragte sich Cocci, obwohl er es schon etwas ahnte.

Im Dorf wussten inzwischen viele, dass bei Josef und Maria bald ein Kind zur Welt kommen würde.


Der helle Stern mit dem langen Schweif war sogar am Tag zu sehen. Er schien direkt über Bethlehem stehenzubleiben. Einige sagten, er kündige einen Retter an, einen besonderen König.


Die römischen Soldaten waren in andere Orte gezogen, und im Dorf wurde es wieder etwas ruhiger.


Cocci aber war hungrig. Er drängte sich durch eine Ritze im Dach nach draußen und suchte noch einmal nach ein paar fetten Läusen. Als er satt war, kehrte er zurück und schlief früh ein.




Weihnachten


In der Nacht zum 25. Dezember wurde Cocci von einem neuen Geräusch geweckt: einem hellen Schreien.

Er blinzelte, schaute hinunter – und traute seinen Augen kaum.


In der Krippe lag ein kleines Bündel, in Tücher gewickelt. Es war ein Baby, das laut weinte. Josef beugte sich darüber und versuchte, es zu beruhigen. Maria lag erschöpft, aber überglücklich daneben.


Draußen leuchtete der Stern mit dem Schweif heller als je zuvor und tauchte alles in ein sanftes Licht.


Neugierig flog Cocci hinunter und landete – ganz vorsichtig – auf dem Gesicht des Babys.

Seine sechs Beine kitzelten die zarte Haut. Das Kind hörte auf zu weinen, gluckste und lächelte.


„Schau, Maria“, sagte Josef leise. „Er freut sich über unseren kleinen Käfer. Was er wohl da vor sich hin brabbelt?“


Cocci blieb ganz still sitzen. Josef hatte plötzlich das Gefühl, dass der Käfer mit dem Kind sprach.

Und tatsächlich geschah etwas, das Cocci nie vergessen würde.


Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er eine Stimme, die nicht von einem Käfer kam.


„Cocci, mein kleiner Freund“, sagte eine warme, feierliche Stimme in seinem Inneren. „Halte deine Fühler still und hör aufmerksam zu. Heute ist ein besonderer Tag. Heute werden deine Wünsche wahr.“


Cocci staunte.

Die Stimme sprach weiter:


„Der Herrgott lässt dir sagen, dass er das Kleid gefunden hat, das schon immer für dich bestimmt war. Damals, als dein Ahnherr sein schlichtes Gewand bekam, war eigentlich etwas anderes für euch vorgesehen. Ein knallroter Anzug, passend zu deinem schwarzen Kopf und Bauch. Du solltest das Tüpfelchen auf dem i sein.“


Cocci konnte kaum glauben, was er hörte.


„Es tut ihm leid, dass du so lange warten musstest“, fuhr die Stimme fort. „Als Zeichen seiner Freude und Dankbarkeit wirst du ab morgen sieben schwarze Punkte auf deinem roten Anzug tragen. Jeder Punkt steht für die Freude, die du Maria und Josef – und heute diesem besonderen Kind – bereitet hast. Du bist ein Glücksbringer geworden: ein Marienkäfer, oder, wie manche sagen, ein Herrgottskäferli.“


Cocci war ganz still.

Bis zu diesem Moment hatte er die Menschen nie verstanden. Ihre Worte waren für ihn immer nur ein Rauschen gewesen. Aber bei Maria, Josef und ihrem Kind hatte er sich von Anfang an geborgen gefühlt.


Mit seinen Vorderbeinen strich er behutsam über seine Fühler, fast wie zur Begrüßung seines neuen Lebens.


Maria nahm das Kind auf den Arm, und Josef öffnete die Tür. Hirten kamen in die Hütte, später sogar drei weise Männer aus fernen Ländern. Sie alle wollten das Kind sehen.


„Das sind mir zu viele Leute“, dachte Cocci. Er spannte seine Flügel und flog zurück auf seinen Balken. Von dort aus sah er zu, wie die Besucher Geschenke brachten und ehrfürchtig vor dem Kind knieten.




Am nächsten Morgen



Als der Morgen graute, streckte sich Cocci, wie er es immer tat. Er blinzelte, schaute an sich hinunter – und staunte.


Sein Körper war nun leuchtend rot. Und darauf: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben tiefschwarze Punkte.


„Der Herrgott hat sein Versprechen gehalten“, dachte Cocci glücklich.


Er war nicht mehr nur ein unscheinbarer Käfer. Er war ein Glückskäfer – ein Herrgottschäferli.




Viele Jahre später – Riedt, 20XX


Es ist Winter, kalt und grau. Weihnachten steht vor der Tür.


In einem kleinen Dorf sitzt jemand an seinem Schreibtisch und sortiert alte Fotos. Plötzlich bleibt er an einem Bild hängen.


Darauf ist ein Marienkäfer zu sehen – ein kleines Herrgottschäferli, das sich an einem kalten Wintertag an ein warmes Fenster geflüchtet hat. Die Sonne scheint auf seine roten Flügel mit den schwarzen Punkten.


Der Betrachter lächelt.


„Vielleicht ist das ein Nachfahre von Cocci“, denkt er. „Oder vielleicht sogar Cocci selbst – er hat ja schließlich göttliches Glück bekommen.“


Und so entsteht aus einem kleinen Käfer und einem alten Versprechen diese Geschichte.

Vielleicht denkst du ja das nächste Mal, wenn du ein Herrgottschnäferli siehst:


„Pass gut auf – das ist ein Glücksbringer.“ 🌟🪲


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